Rad: Seine Erfindung veränderte die Welt

Rad: Seine Erfindung veränderte die Welt
Rad: Seine Erfindung veränderte die Welt
 
Transport über Land auf Rädern braucht zweierlei: Kraft und Infrastruktur. Dies gilt für Auto und Fahrrad unserer Tage ebenso wie für das etwa 5 500 Jahre alte zweiachsige, schlittenartige Gefährt, das als frühsumerisches Schriftzeichen auf den Tontafeln von Uruk in Südmesopotamien erhalten ist. Es wird als der bisher älteste Beleg für Räderfahrzeuge im Vorderen Orient angesehen, wobei völlig unklar ist, ob ein solcher Wagen jemals gefahren ist, und, wenn ja, wie er fortbewegt wurde. Menschenkraft als Antrieb mag es gegeben haben, war aber sicherlich nicht die Regel. Als potenzielle Zugtiere kommen Rind und Esel in Frage; beide gehörten in Mesopotamien ab dem 4. Jahrtausend v.Chr. zum festen Haustierbestand, sind aber als Zugtiere langsam, wenn auch ausdauernd. Man hat den Hausesel daher mit dem Onager gekreuzt, einem Halbesel, der einst über ganz Vorderasien bis nach Indien verbreitet war. Diese Gebrauchskreuzungen versprachen Ausdauer und eine annehmbare Schnelligkeit, weshalb sie in Mesopotamien sehr geschätzt waren. Auch ohne Pferd, das in Mesopotamien erst ab etwa 2500 v. Chr. gehalten wurde, war das Problem der Energie zur Fortbewegung von Räderfahrzeugen also einigermaßen gelöst. Eine Infrastruktur in Form von Straßen oder befestigten Wegen wird man voraussetzen können, weil die frühen aufstrebenden Städte Mesopotamiens um diese Zeit einen großen Bedarf an Landtransportmöglichkeiten für den Handel und für die Kriegsführung untereinander entwickelten.
 
Lange Zeit war man in der Forschung der Meinung, dass in Mesopotamien, wo die ältesten Belege für eine sesshafte Lebensweise mit Ackerbau und Viehzucht zu finden sind und die frühesten stadtähnlichen Siedlungen entstanden, auch das Räderfahrzeug entwickelt worden sei: Die schnell drehende Töpferscheibe, die ab 3500 v. Chr. im Vorderen Orient in Gebrauch war und das Prinzip der Rotation eines flachen Zylinders um eine fest stehende Achse bereits beinhaltete, stehe mit der Entwicklung von Achssystemen und Radwagen in Zusammenhang. Mittlerweile sind aber aus Bulgarien, dem Kaukasus und aus den südrussischen und ukrainischen Steppenregionen zahlreiche Gräber bekannt geworden, in die als Grabbeigaben Wagen mitgegeben worden waren. Sie stammen aus der Zeit um 3000 v. Chr. oder sind noch etwas älter und zeigen, dass die Erfindung des Wagens etwa zeitgleich, aber in weit auseinander liegenden Regionen vonstatten ging. In der Westschweiz und im nordalpinen Raum Mitteleuropas bis nach Holland und Dänemark fand man zahlreiche Wagenteile, vor allem Räder, die ebenfalls etwa 4 900 Jahre alt sind. Etwas älter, aus der Zeit um 3200 v. Chr., sind die Wagendarstellungen in einigen Steinkammergräbern und auf einem Tongefäß aus Polen; dasselbe gilt für tönerne Wagenmodelle aus Ungarn.
 
 Eiernde Räder und andere technische Probleme
 
Alle frühen Wagenräder aus Europa sind aus Vollholz, meist Eiche, hergestellt, haben einen Durchmesser bis über 90 cm und zeigen runde oder viereckige Achslöcher. Diese deuten auf unterschiedliche Wagenkonstruktionen hin: Entweder rotiert die Achse zusammen mit den Rädern oder die Achse wird unter dem Wagen fixiert, wobei sich dann während der Fahrt die Räder um die runden Achsschenkel drehen. In beiden Fällen war mit Schwierigkeiten bei der Aufhängung von Achse und Rad und dem bis ins 18. Jahrhundert n. Chr. weitgehend unlösbaren Problem der Reibung und des Materialabriebs an Achse und Radnabe zu kämpfen. Achsbruch und nicht mehr die Spur haltende, »eiernde« Räder waren die Regel. Aber bereits ab der Bronzezeit hat man in Mitteleuropa auswechselbare Radbuchsen in der Radnabe fixiert und leichtere und flexiblere Speichenräder in Gebrauch genommen. Zu dieser Zeit, etwa um 2000-1600 v. Chr., entstanden erstmalig mit einer beweglichen Vorderachse versehene und damit lenkbare Zweiachser: Bis dahin konnten Zweiachser um keine Kurve fahren oder wenden; wollte man Achs- und Deichselbruch verhindern, mussten sie vorn angehoben und in die neue Richtung gedreht werden.
 
 Wagen für Kriege, Prunk und Gräber
 
Bei Einachsern ist die Lenkung natürlich nie ein Problem gewesen, weshalb im Vorderen Orient diese Konstruktion schon recht früh bevorzugt wurde. Ab 2300 v. Chr. sind hier von Pferden gezogene und mit Speichenrädern versehene Einachser belegt, die als leichte Kampfwagen die damalige Kriegstechnik revolutionierten. In Anatolien waren es die Hethiter, die ganze Streitwagengeschwader für ihre Eroberungskriege einsetzten; einem Erlass des Hethiterfürsten Anitta aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. ist zu entnehmen, dass er 1 400 Mann Fußtruppen und 40 Pferdegespanne und Streitwagen für einen Feldzug in Marsch setzte. Diese Innovation verbreitete sich im ostmediterranen Raum sehr schnell; der Prunkwagen des Tutanchamun aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. lässt die Leichtigkeit und Schnelligkeit eines solchen Gefährts erahnen. In Ägypten wurden Einachser als Kriegswaffe, aber auch als Jagd- und Sportwagen genutzt, während für den Gütertransport weiterhin schwer gebaute, behäbigere Wagen mit Ochsengespann zum Einsatz kamen. Ohnehin sind Rinder aufgrund ihres Körperbaus als Zugtiere besser geeignet als Pferde, zumal ihre Hörner in die Techniken der Anschirrung einbezogen werden konnten. Aber auch die Esel-Onager-Kreuzungen und Pferde wurden angeschirrt. In Osteuropa waren Pferde bereits um 4000 v. Chr. domestiziert, in Mitteleuropa ab 3000 v. Chr.; sie dienten als Nahrungsvorrat und als Reittiere, während Rinder auch für den »Antrieb« der Wagen und Karren sorgten.
 
Der 1902 in einem Moor bei Trundholm in Dänemark gefundene Wagen zeigt allerdings ein Pferd als Zugtier; es steht auf einem Zweiachser und zieht einen Einachser, auf dem eine goldbelegte Bronzescheibe montiert ist. Dieses einzigartige, insgesamt nur 60 cm lange Fundstück datiert aus der Zeit um 1600 v. Chr. und wird als Kultwagen, als »Sonnenwagen von Trundholm«, interpretiert. Die etwas jüngeren Radfunde von Stade bei Hamburg zeigen aber, dass man durchaus in der Lage war, aus Bronze auch größere, gebrauchsfähige Speichenräder mit Achsbuchsen herzustellen. Solche Räder waren ehedem sicherlich nicht an einen normalen »Lastwagen« montiert, sondern an ein besonderes Gefährt, das eine herausragende, vielleicht kultische Bedeutung hatte. Tatsächlich werden Wagen, spätestens ab etwa 1200 v. Chr. in Europa zum Statussymbol und Zeremonialgerät geworden, den Verstorbenen als besondere Beigabe mit in das Grab gegeben. Für die Hallstattzeit von 800 bis 500 v. Chr. sind in Mitteleuropa über 240 reich mit Waffen ausgestattete Gräber bekannt, die zusätzlich einen Wagen als Beigabe aufzeigen. Der griechische Historiker Herodot berichtet von den Skythen im nördlichen Schwarzmeergebiet, dass sie ihre Toten zunächst 40 Tage auf einem Wagen durch das Land fahren, bevor diese mit dem Wagen und der Dienerschaft beerdigt werden. Für die Kelten in Mitteleuropa kann Ähnliches angenommen werden. Der für das Leben nach dem Tode überaus reich ausgestattete »Keltenfürst von Hochdorf«, der um 550 v. Chr. verstarb, hat einen 4,5 m langen, eisenbeschlagenen Wagen mit ins Grab bekommen. Ob diese großen und schweren Zweiachser, die von Pferden gezogen wurden, bereits mit Gleitrollenlagern ausgerüstet waren, wird seit langem diskutiert; der Reibungswiderstand an den Achsen würde erheblich gemindert, aber ein gültiger Nachweis fehlt weiterhin. Vermutlich hat man Schmiermittel wie tierische Fette und Baumharze benutzt. Trotzdem wird man auch für diese Zeit noch von stark quietschenden Fahrgeräuschen, von sehr schwer arbeitenden Zugtieren und häufigen Achsbrüchen ausgehen müssen, wenn alle diese Wagen überhaupt eine längere Zeit in Fahrt gewesen sind. Denn zum einen waren nicht alle Wagen in fahrtüchtigem Zustand, als sie in das Grab gelegt wurden, zum anderen sind nicht alle Wagen lenkbar, obwohl die Technik hierfür schon bekannt war.
 
Eine überregionale Infrastruktur für Landtransporte kann für diese Zeit vorausgesetzt werden, ist aber kaum erforscht. Als in Mitteleuropa um 3000 v. Chr. die ersten Wagen gebaut wurden, waren Straßen oder breitere Wege sicher nicht vorhanden, sodass der unmittelbare Nutzen solcher Vehikel sicher sehr gering war. Noch war nicht vorherzusehen, dass Transporte mit Wagen einst die Welt verändern würden.
 
Dr. Ulrich Zimmermann

Universal-Lexikon. 2012.

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